100-km-Trail “Sunrise to sunset” in der Mongolei (Laufbericht)

Geschafft!

logo.ultramongolia_20075 Wochen nach den 100 Kilometern von Biel, die ich nach der Hälfte der Strecke aus mehreren Gründen aufgeben musste, habe ich nun meinen ersten 100-Kilometer-Lauf geschafft. – Aber auch wenn mich das – zugegeben – mit Stolz erfüllt, war der Lauf alleine nicht das Einzige, was zu dem unvergesslichen Erlebnis geführt hat. Vielmehr konnte der Lauf nur zu dem besonderen Ereignis werden, weil nicht nur die Landschaft, sondern auch das Vorher und Nachher so einmalig schön war.

Ulan Batur und Transfer zum Camp

Freundliche Begrüßung am Flughafen Chingis Kahn

Dies begann schon mit dem Transfer von Ulan Batur zum Camp Toilogt am Khovsgol-See, bei dem bereits der freundliche Empfang am Flughafen das beruhigende Gefühl vermittelte, dass alles, wirklich alles getan werden wird, um diese Woche so angenehm wie möglich zu machen.

[Hinweis: Die Fotos lassen sich durch Anklicken vergrößern.]

Zunächst wurden wir vom Flughafen ins Zentrum von Ulan Batur gefahren, wo uns nicht nur ein Frühstück serviert wurde, sondern auch ein wenig Zeit blieb, einige wenige Eindrücke von der hektischen und nur wenig charmanten Hauptstadt der Mongolei zu sammeln. Wohltuend anders, nämlich fern des großstädtischen Chaos zeigte sich lediglich das sehenswerte Kloster Gandan,  wo aufgrund der frühen Morgenstunden wir die Zeremonien der vom tibetischen Buddhismus beeinflussten Mönche erleben durften.

Straße in Ulan Batur Gandan Kloster Ulan Batur Gandan Kloster, Ulan Batur

Nachmittags ging es dann zurück zum Flughafen, wo wir die übrigen, nicht über Moskau, sondern über Peking angereisten Läufer trafen, um mit einem kleineren Düsenjet nach Moron weiter zu fliegen. Dort warteten bereits geländegängige Kleinbusse, die uns auf den verbleibenden 130 Kilometer auf Schlagloch reichen Sandpisten bis zum Camp Toilogt am See Hovsgol mächtig durchschütteln sollten. Pause auf der Busfahrt zum Camp in der SteppeUnd bereits hier setzte der faszinierende, den gesamten Aufenthalt andauernde Prozess des Kennen- und Schätzenlernens ein, da jeder mit jedem leicht ins Gespräch kam und Interesse am Gegenüber fand, bildeten doch sowohl das gemeinsame Vorhaben, der (Ultra-)Marathon, als auch die bisherigen Lauferfahrungen einen Kitt, der die unterschiedlichsten Menschen, angereist aus den verschiedensten Ländern fest zusammenfügte: Laufen verbindet! – Zugegeben:  Auch hier bestätigt leider eine unangenehme Ausnahme die Regel, aber das ist bei ca. 70 Menschen, die aufeinander treffen, eigentlich eine erstaunlich gute Quote …

Camp Toilogt am Hovsgol-See

Im Camp angekommen, wurden wir abermals herzlichst begrüßt und nach einem Abendessen konnten wir die Gers beziehen, das ist die Bezeichnung für mongolische Jurten, die mit mehreren Lagen Filz isoliert und einem kleinen Ofen sowie bequemen Betten sehr gemütlich sind.

Die drei Tage bis zum Marathon verflogen wie im Fluge: Neben Fachsimpeln über die tollsten Läufe überall in der Welt (ob Antarktis, chinesische Mauer, Himalaja, Urwald oder Wüste, zu jedem erdenklichen Lauf findet sich ein Finisher!) und Austauschen über die jeweiligen Lebenssituationen (Heimatland, Beruf, Familie, Hobbys und Vorlieben) lag das vor allem an den Ausflüge in die phänomenal schöne, durch einen Nationalpark geschützte Umgebung des Camps, das direkt am malerischen Hovsgol-See (auch Khovsgol- oder Hövsgöl-See geschrieben) liegt.

Berge rund um den Hovsgol-See, Mogolei Hovsgol-See, Mongolei

Am Tag vor dem Lauf war Regeneration angesagt und die meisten Läufer verbrachten den Tag im Camp – auch um den Medizin-Check zu absolvieren. Und wie gewöhnlich hieß es auch hier warten, doch statt eines muffigen Wartezimmers mit hustenden Kranken, stand man klönend auf der Wiese. Medizinischer Check vor dem Ultra-MarathonDass sich Schlangen bildeten lag nicht nur an der individuellen Untersuchung, sondern auch an den vielen Hilfsangeboten, die von seiten der Veranstalter gemacht wurden: So wäre es für mich durchaus möglich gewesen, einen Reiter als ständige Begleitung während des Laufs zugeteilt zu bekommen. Da ich aber keinerlei Befürchtungen hegte, während des Laufs z. B. wegen einer Unterzuckerung auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, lehnte ich dies dankend ab, nahm aber das Angebot an, an jeder Aid-Station Sport-BEs – in Form von Cola-Dosen 😛 – zu hinterlegen.

Konzert im Camp Toilogt, Hovsgol-SeeEine letzte Einstimmung auf den großen Tag schenkte uns ein abendliches Konzert von Musikstudenten aus Ulan Batur, denen es gelang, mit ihrer mongolischer Musik die Geister der Natur zu besänftigen und für den morgigen Tag milde zu stimmen. Dies geschah allerdings nicht ganz ohne Selbstzweck, denn der Flötenspieler nahm äußerst erfolgreich am Marathon teil und finishte als fünfter.

Das Rennen

Und dann war er endlich da, der Tag des 100-Kilometer-Laufs “Sunrise to Sunset” …

Nach einem mongolischen Weckruf gegen 2:45 Uhr – der Flötenspieler zog mit einer energiereichen, aufgrund der punktierten Rhythmen ein galoppierendes Pferd beschwörenden Melodie durch das Camp – gab es ein (angesichts des Laufs vielleicht zu) ausgiebiges Frühstück, während dessen die Ausrüstung jedes Läufers kontrolliert wurde: Jeder Läufer musste eine mindestens 1,5 Liter fassende Trinkblase, Taschen- oder Stirnlampe, Regenkleidung, Rettungsdecke, Signalpfeife, Streckenplan, Kompass und als Notverpflegung Schokolade mit sich führen.

Mongolia "Sunrise to Sunset" - StartUnd schnell, viel zu schnell rückt der Start näher. Ehe ich mich versehe, höre ich auch schon den Countdown, der in der Sprache erklingt, die glücklicher Weise alle verstehen und jeder mehr oder weniger gut spricht: “Ten – nine – eight – … – three – two – one”. Wie das letzte Zauberwort heißt, dass uns letztendlich starten lässt, weiß ich nicht mehr – es ist aber auch egal, denn alle wissen, was gemeint ist und sogleich stürmt eine Gruppe von fünf, sechs Läufern im Stockdunkeln auf den Wald zu, so schnell, dass ich nicht folgen kann (und auch nicht wollte) und daher den technisch anspruchsvollen, wurzelübersäten, schmalen Pfad alleine laufen muss. Spätestens hier bin ich über meine Stirnlampe heilfroh, denn ohne wäre dieser Weg niemals zu laufen gewesen.

Sunrise to Sunset, Plan der LaufstreckeNach knapp drei Kilometern endet der Trail durch den Wald und die Strecke folgt bis Kilometer 12 der Uferstraße, die aus festgefahrenem Sand besteht. Im Dämmerlicht heißt es auch hier, aufpassen, denn die vielen Schlaglöcher sehnen sich förmlich danach, Läufer zum Straucheln zu bringen. Dennoch bleibt viel Zeit für das Genießen des Hovsgol-Sees, dessen riesige Fläche sich nach und nach von schwarz, über grau in viele, immer heller werdende Silbertöne verfärbt. Erst hier wird deutlich, warum der Name des Laufs, “Sunrise to Sunset”, trotz des Starts in der Dunkelheit richtig ist: Der Anbruch des Tages ist ein großartiges Erlebnis, auch wenn wir den eigentlichen Sonnenaufgang nicht sehen können, da Wolken diesen verdecken.

Doch auf diesem Streckenabschnitt bleibe ich nicht lange alleine, Jay schließt auf und wir unterhalten uns über das Frühstück im Camp so angeregt, dass wir etwa ein Kilometer vor der ersten Aid-Station nicht mehr auf die grünen Punkte achten, die den Weg markieren, sondern die Uferstraße verlassen und einem ausgetrockneten Flussbett folgen. Erst nach 700 Metern werden wir stutzig und laufen zurück, um nach einem Umweg von fast eineinhalb Kilometern wieder grüne Markierungen zu finden, die uns nach einem weiteren Kilometer zur Aid-Station führen. Hier werden die Läufer – wie auch bei allen anderen Verpflegungspunkten – durch herzlichen Applaus begrüßt und mit Kartoffeln, Kekse, getrocknete Bananen, Wasser und mongolischen Tee sowie Salz und Zucker versorgt.

Sunrise to Sunset, HöhenprofilGleich danach verlassen wir den See und es geht 4 Kilometer lang einen steinigen Reitweg steil hinauf: Von 1649 m sind bis zum Pass auf 2256 m etwa 600 Höhenmeter zu bewältigen. Dennoch ist dieser Anstieg keine Quälerei, denn zum einen entschädigen die grandiosen Ausblicke, zum anderen überholen wir einige Läufer, die während unseres Umwegs an uns vorbeigezogen waren. Jay, der nur den Marathon laufen möchte, folge ich nicht, da sein Tempo (er sollte später nach 42 Kilometern in 4:58 Stunden als Zweiter ins Ziel kommen) mir angesichts der noch ausstehenden 75 Kilometern unvernünftig schnell erscheint. Kurz darauf überholen mich Läufer, die ich eigentlich deutlich vor mir erwartet hatte, unter anderem der spätere Sieger der 100-Kilometer, Sylvain Bazin (12:30 Stunden). Kurz bleiben wir zusammen und er erzählt mir, dass er und drei andere Läufer den gleichen Umweg gelaufen seien, den Jay und ich zuvor genommen hatten, nur den Fehler erst nach 1,5 Kilometern bemerkt hätten. Wir verabschieden uns mit vielen guten Wünschen und mir schießt durch den Kopf, wie einmalig dieser Lauf ist: Du läufst mit Freunden und nicht gegen Gegner! Es gibt kein Überholen oder Überholt-werden, es ereignen sich lediglich Treffen, für die ich äußerst dankbar bin.

s2s-pass1-2 Sunrise to Sunset, Chichee Pass Sunrise to Sunset, Chichee Pass

Oben angekommen (Kilometer 17), erwartet mich und Siggi, mit dem ich die letzten Meter des Anstiegs gelaufen bin, ein Reiter, der notiert, wer wann vorbei gelaufen ist, nicht nur um ein Abkürzen der Strecke zu verhindern, sondern auch, falls sich ein Läufer verlaufen sollte, diesen leichter finden zu können. Diese sympathische und bildkräftige Begegnung wiederholt sich einige Male, denn immer wieder begegnen wir unterwegs Mongolen, die unsere Startnummer und die Zeit notieren, uns ihr gewinnendes Lächeln schenken und viel Glück wünschen.

 Sunrise to Sunset, Kontrolle beim Abstieg vom Chichee Pass

Ebenso steil wie der Anstieg ist der steinige, nur mit Vorsicht zu laufende Weg hinab – auf dem der bergerfahrene Schweizer seine ganze Erfahrung ausspielt, sodass ich ihm nicht folgen kann – und schon 5 Kilometer später erreiche ich ein Tal, das wieder annähernd auf der Höhe des See liegt. Der schmale Trail führt über Wiesen und durch Wälder parallel zu einem kleinen Fluss. Sunrise to Sunset, Wasser steht auf den WiesenSchwierig wird die Strecke durch das Wasser, das entweder knöcheltief in der Wiese steht und für nasse Füße sorgt oder den Waldboden in Schlamm verwandelt. Grund dafür sind die Permafrostböden, die nur an der Oberfläche auftauen und so verhindern, dass das Regenwasser versickert.

Bei Kilometer 25,5 befindet sich die zweite Aid-Station. Hier lasse ich meine Trinkblase auffüllen, greife nach Kartoffeln und Salz, was ich – wie im Training mehrfach erprobt – sehr gut vertrage.

Sunrise to Sunset, Anstieg zum Khirvesteig PassUnmittelbar nach der Aid-Station geht es durch das Tal, dessen ausgetrockneter Flusslauf zu den Umwegen eingeladen hatte. Auch wenn die Steigung des am sanften Wiesenhang verlaufenden Wegs kaum auffällt, bremsen die 200 Meter, die das Tal auf 5,5 Kilometer gewinnt, doch deutlich: Es schlaucht und man wundert sich, warum … Schneller werde ich erst, als Malcolm mich überholt und ich mich an seine Fersen hefte.

Doch dann kommt es plötzlich knüppeldick: Nachdem wir das Flussbett mit seinen großen weißen Kieselsteinen gequert haben, geht es in einem Lärchenwald steil bergauf, viel steiler, als es das Sunrise to Sunset, Anstieg zum Khirvesteig PassFoto abbilden kann, und zu steil (und zu matschig), um noch an Laufen zu denken. Malcom spielt hier seine große Fitness aus, die er in ähnlichem Gelände in Neuseeland erworben hat, und zieht davon – schade, mit ihm wäre ich sehr gerne weiter gelaufen, nicht nur, weil er am Ende der 100-Kilometer als Vierter eine dreiviertel Stunde früher als ich ins Ziel einlief …

Sunrise to Sunset, Khirvesteig PassEbenso steil, nein, noch steiler geht es nach Erreichen des Khirvesteig Passes (Kilometer 31) wieder bergab. 250 Höhenmeter auf einem Kilometer sind ein echter Oberschenkelkiller! Zudem fordert der teils feucht und rutschige, teils steinig und ebenfalls rutschige Untergrund den Gleichgewichtssinn extrem. Auf etwa halber Strecke betreibt ein Vater mit seinem Sohn eine Wasserstelle – welch herrlicher Grund das beschwerliche Laufen kurz zu unterbrechen!

Bald nach der Wasserstelle endet der Wiesenhang und der Trail folgt einem Reitweg, der mit einem sanften Gefälle zurück zum See führt. Hier lässt die Bodenbeschaffenheit zum ersten Mal seit langem wieder etwas Tempo zu, wobei ich die Gelegenheit gerne ergreife, denn in meinem Kopf erfasst die Idee, nicht 100 Kilometer zu laufen, sondern es beim Marathon zu belassen, mehr und mehr Raum. Und wenn ich schon nach 42 Kilometern aufhöre, dann doch zumindest mit einer akzeptablen Zeit …

Sunrise to Sunset, Straße am Ufer des Hovsgol-SeesIn dieser Stimmung biege ich nach 37 Kilometern wieder auf die Uferstraße ein, die wir in der Dämmerung bereits gelaufen sind, und beschleunige weiter – “nur noch 5 Kilometer!”

Sehr schnell habe ich den kleinen See vor dem Lager umrundet und erreiche nach 5:40 Stunden das Marathon-Ziel in der festen Annahme, das meine Qualen für heute ein Ende haben. Denn die Strecke hatte von mir alles abverlangt, schwierig zu laufende Trails und enormes Gefälle hatten meinen Oberschenkeln derart zugesetzt, dass ich an Weiterlaufen zunächst keinen Gedanken verschwendete.

Sunrise to Sunset, Ziel des Marathons

Und dann ereignete sich etwas, was im Rückblick sowohl lustig als auch unglaublich peinlich ist, nämlich die Suche nach Ausreden, um möglichst ohne Gesichtsverlust, aber auch vor sich selbst gerechtfertigt die 100 Kilometer abbrechen zu können. Also versuchte ich, die Knie- und Wadenschmerzen, die in den letzten vier Wochen ein kontinuierliches Training unmöglich gemacht hatten, als Grund zu instrumentalisieren und erzählte dem Rennarzt von Schmerzen, die mich eigentlich so gut wie nicht behindert hatten, da eine am Morgen genommene Diclofenac 75mg in dieser Hinsicht fast für Schmerzfreiheit gesorgt hatte. Doch der Arzt ließ dies nicht als Ausrede gelten, bot mir zwei Paracetamol an und forderte mich auf, weiterzulaufen, er würde mir mit dem Fahrrad die Tabletten hinterher bringen. Als ich immer noch zögerte, mischte sich Mykel ein:

“Du bist so früh hier, im Marathon-Ziel, und hast noch so viel Zeit: Du kannst doch die gesamte Strecke gehen … go, go, los jetzt, go!”

Und da lediglich Siggi, der wie 19 andere Läufer den 100-Kilometer-Lauf abbrach und nach 42 Kilometern finishte, für mein Ansinnen Verständnis zeigte, alle anderen aber sich uneinsichtig zeigten, machte ich mich tatsächlich – nach 30 Minuten Jammern – noch auf den Weg, zumindest bis zur nächsten Aid-Station bei Kilometer 55.

Und so hat mich das Rennen wieder und ich folge dem Ufer des Sees bis zum angesprochenen Zwischenziel, teils auf der Straße, teils auf Wiesen, auf denen Yaks und Kühe weiden, teils am Ufer – aber bis auf die flachen Steine am Ufer lässt sich dieser Abschnitt leicht laufen. Obwohl, “leicht” ging zu dieser Zeit eigentlich gar nichts mehr und nur der Rhythmus “vier Minuten laufen, eine Minute gehen” ließ mich diese Schwächephase überhaupt überstehen. Aber nach und nach wurde es besser und nach etwa sechs, sieben Kilometern war wieder an kontinuierliches Laufen zu denken. – Ach ja, nach etwa eineinhalb Kilometern holte mich tatsächlich der Rennarzt ein (er erwischte mich laufend und war überrascht, wie weit ich schon war) und gab mir zwei Paracetamol, die ich aber nur scheinbar schluckte, in Wahrheit aber in meiner Backentasche verstaute und in einem unbeobachteten Moment am Straßenrand entsorgte – ich  war von seinen Bemühungen so berührt, dass ich ihm mit einer Verweigerung der Tabletten nicht enttäuschen wollte …

Sunrise to Sunset, Weg am Ufer des Hovsgol-Sees Sunrise to Sunset, Weg am Ufer des Hovsgol-Sees

Sunrise to Sunset, Yaks und Kühe am Ufer des Hovsgol-Sees Sunrise to Sunset, Ufer des Hovsgol-Sees

Eineinhalb Stunden später erreiche ich die Aid-Station und der Gedanke, hier aufzugeben, verschwindet sofort, als mich die unglaublich freundlichen Menschen so begeistert empfangen. Sunrise to Sunset, Aid-StationNein, hier darf man einfach nicht aufhören. Zudem ist die nächste Verpflegungsstelle nur 10 Kilometer entfernt. Also mache ich mich, nachdem ich mich ausdrücklich bedankt habe, auf meinen Weg hoch zum Jankhai Pass, der mit seinen 1914 m nach all dem, was vorher war, keinen Schrecken mehr verbreitet. Auch bin ich fast froh, dass es wieder aufwärts geht, denn die völlig ebene, (viel zu) leicht zu laufende Strecke der letzten Kilometer war doch ein wenig – ich traue es mich angesichts der zwar nicht mehr so spektakulären, aber immer noch beeindruckend schönen Landschaft kaum zu sagen – langweilig.

Aber der Spaß des Anstiegs – der zudem eine schöne Ausrede ist, nicht zu laufen, sondern zu gehen – trifft leider auf einen Streckenabschnitt, der inzwischen jeden Charme verloren hat, denn er läuft teils neben, teils aber auch über eine lange Baustelle, denn die mongolische Regierung möchte den See mit einer breiten Zufahrtsstraße “beglücken”, was sicherlich für den Nationalpark nichts Gutes verheißt: Das Besondere der Gegend, die saubere, von zerstörerischer Zivilisation erst wenig berührte Natur, könnte in den nächsten Jahren massiv gefährdet, wenn nicht zerstört werden.

Diese Gedanken nehmen auch nach dem Pass noch für einige Kilometer die Freude am Laufen, ehe endlich nach der Aid-Station bei Kilometer 65 die Strecke nicht mehr in Sichtweite der Straße verlief. Erst jetzt bemerke ich das schöne Tal, durch das wir laufen, die Herden, die ohne Zaun dort weiden, wo sie das beste Gras finden, und die neugierig auf uns zu kommen, dann aber doch in sicherer Entfernung stehen bleiben. – Wir? Uns? – Ja, wir, denn inzwischen hatte ich Sarah eingeholt, die noch vor kurzem Siegerin eines Stadtmarathons war, jetzt aber vor allem mit ihren Blasen an beiden Füßen, aber auch mit der Länge der Strecke und dem Profil zu kämpfen hatte. Gemeinsam schlagen wir uns durch bis kurz vor Kilometer 76, dem vorletzten Verpflegungsposten, und profitieren beide von einander, ich sammle durch das gemeinsame Laufen und die netten, meine Selbstwahrnehmung störenden Gespräche Kraft und fühle mich wieder fit, sie überwindet ihren toten Punkt und lernt zu akzeptieren,  woran sie zuvor fast verzweifelt wäre: Es gehört zu einem 100-Kilometer-Lauf einfach dazu, nicht jeden Meter zu laufen! Nach fast zwei Stunden gemeinsamen Gehens und Laufens, in denen wir 16 Kilometer zurückgelegt hatten, verabschiedet sie sich von mir, damit ich mein Tempo laufe, zu dem sie sich doch nicht mehr in der Lage fühlt – und erreicht später als zweite Frau nach 15:37 Stunden das Ziel ihres ersten Ultras.

Nachdem ich einen kurzen Anstieg und einen längeren Abstieg durch einen Lärchenwald passiert habe, signalisiert ein traumhafter Blick auf den See, dass der Rückweg zum Lager beginnt, und verschafft mir die letzte Gewissheit, den Lauf zu packen. So halte ich nur kurz an der bereits erwähnten Aid-Station bei Kilometer 76 und nehme weitere traumhaft schöne, wenn auch nicht einfach zu laufende Kilometer in Angriff. Die Strecke folgt einem schmalen  Pfad, der an der zwischenzeitlich extrem steilen Böschung des Sees verläuft, dabei stark profiliert fortwährend auf- und absteigt und – als Ausgleich für die erforderliche Konzentration und die gelassenen Kräfte – immer wieder unvergessliche Blicke auf den See erlaubt, der hier, von oben betrachtet, an das azufrarbene Mittelmeer erinnert. Allein für diesen Streckenabschnitt hat sich jeder Kilometer gelohnt! – Schade nur, dass mein Fotoapparat zwischenzeitlich kaputt gegangen war und ich daher keine “Beweis-Fotos” liefern kann.

Als ich bei Kilometer 88 die letzte Aid-Station erreiche, wird mir bewusst, wie sehr ich mich auf der Strecke erholt habe, denn schließlich war ich ja schon einmal hier, bei Kilometer 55, und da sah die Laufwelt noch ganz anders aus … In der Gewissheit, die restlichen 12 Kilometer zu schaffen, strahle ich bis über beide Ohren, sprühe vor Energie, auch weil ich mich darüber freue, diese besonders netten Menschen noch einmal wiederzusehen.

Sunrise to Sunset, kurz vor dem ZielAls dann aber Henk eintrifft, den ich wenige Kilometer vorher passiert habe, und sich – im Gegensatz zu mir – keine Zeit  zum Rasten gönnt, reiße auch ich mich los … um diese letzten, bereits in der Gegenrichtung gelaufenen und nicht in bester Erinnerung (“langweilig”) behaltenen 12 Kilometer noch einmal zu bezwingen. Aber dieses Mal geht alles einfacher: Mit einer Kilometer-Pace von etwa 5 Minuten, die sich dann aber Kilometer für Kilometer wieder etwas beruhigt, nehme ich die lange Schlussgerade in Angriff, “stürme” bald an Henk vorbei und erreiche froh und stolz nach 14:22 Stunden als Sechster das Ziel (Ergebnisse »).

Sunrise to Sunset, Im Ziel der 100 Kilometer

Auch heute, drei Wochen später, denke ich mehrmals täglich an das große Erlebnis dankbar zurück, das ich im Hovsgol-Nationalpark erleben durfte. Denn es war nicht nur die Natur, die so eindrücklich in Erinnerung bleibt, es waren auch die vielen liebenswürdigen Menschen, Läufer wie Helfer, die diesen Lauf so besonders machten – und die ich durchaus ein wenig vermisse.

Und dann ist da noch die ganz besondere Lektion, die von vielen Ultraläufern beschrieben wird, die man aber selbst erleben muss, um sie wirklich zu verstehen:

“Wenn Du an einen Punkt kommst, an dem nichts, aber auch gar nichts mehr zu gehen scheint, gib nicht auf, lauf weiter, es geht!”

Schön wäre, wenn ich das in Zukunft nicht nur beim Laufen beherzigen könnte …

Rückkehr

Nach einem Ruhetag im Camp mit einer mehrstündigen Award-Ceremony samt Sieger-Dinner am Abend ging es wiederum bestens organisiert auf die Rückreise über Moron nach Ulan Batur, von wo alle Läufer in ihre Länder zurückflogen.

Allerdings muss dieser schnelle Aufbruch nach dem Lauf nicht sein, denn es besteht die Möglichkeit, einen einwöchigen Trek auf Pferden durch das gebirgige Hinterland zu buchen. Diese Option buchten acht Läufer, darunter meine Frau und ich, und genossen es, mit acht mongolischen Guides, die uns bestens betreuten, und 25 Pferden (16 Reit- und 9 Packpferden) noch ein paar weitere Tage durch das schöne Land zu reiten!

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Informationen zum Lauf: www.ultramongolia.com »

Reiturlaub im Hovsgol-Nationalpark (ohne Lauf): Trek Mongolia »

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9 Comments
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susan
Mitglied
17. August 2009 8:42

herzlichen glückwunsch zu dieser großartigen leistung und vielen dank für deinen bericht und die tollen photos. da kriegt man ja gleich lust, auch mal ein bisschen mehr zu laufen.
herzliche grüsse
susan

Andre
Andre
Gast
17. August 2009 15:59

Hallo Andreas.

Herrlich. Viel kann und muss man nicht dazu sagen. Ein Erlebnis, das einem keiner mehr nehmen kann.

Gruß

André

david
Mitglied
18. August 2009 11:04

lieber andreas,
dein reise-lauf bericht samt oberschenkelknallern und paracetamolbackentaschen ist sehr sehr beeindruckend, wohl auch deshalb weil unter extremsten bedingungen die eindrücke von land und leuten scheinbar noch intensiver werden und sich sogar dem dem leser auf die hirnrinde einzubrennen vermögen. herzlichen glückwunsch!
david

Hennes
Hennes
Gast
19. August 2009 10:53

Einfach nur BRILLANT – gelaufen, getextet und “geknipst” !!!

*willauchmal*

gruss hennes

Olli
Olli
Gast
3. September 2009 9:17

Hallo Andreas,
klasse Bericht über, wie ich denke, eine klasse Veranstaltung!
Die Mongolei reizt mich schon sehr lange als Reiseziel, jetzt
weiss ich erst, dass ich das mit einer sportlichen Herausforderung
kombinieren könnte… Danke dafür!

gruss
Olli

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